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Grafschafter Nachrichten vom 27.07.1991

Wundersame Reise einer Uhr durch Zeit und Raum

Grafschafter Amateurfunker und die Geschichte eines unglaubliches Zufalls

von Friedrich Gerlach

Uelsen/Mühlberg/Zandvoort. Im folgenden wird die Geschichte einer Uhr erzählt, die zugleich die Geschichte einer wundersamen Reise durch Zeit und Raum und unglaublicher Zufälle ist. Sie beginnt Ende der zwanziger Jahre in den Niederlanden und nimmt in unseren Tagen in der ehemaligen DDR und in der Grafschaft Bentheim ein glückliches Ende. Es ist die Geschichte eines Unglücks und eines Verlustes. Auch der Zweite Weltkrieg und die Zeit der deutschen Teilung spielen in der Geschichte eine Rolle. Es ist auch nach mehr als fünf Jahrzehnten eine deutsch-niederländische Geschichte und dazu ein Beweis, dass Amateurfunker, wie es sie auch in der Grafschaft gibt, ein Völkchen sind, das in jeder Hinsicht verbindend wirken kann.

Gegenwart

Während der Pfingstfeiertage 1991 halten sich Mitglieder des Ortsverbandes Niedergrafschaft des Deutschen Amateur-Radio-Clubs (DARC) in Mühlberg an der Elbe auf, einem Städtchen einige Dutzend Kilometer nordwestlich von Dresden. Mit der dortigen Amateurfunker-Vereinigung und ihrem Vorsitzenden, Frank Neumann, unterhalten die Niedergrafschafter seit geraumer Zeit freundschaftliche Kontakte, die nach der »Wende« in der ehemaligen DDR auch in gegenseitige Besuche münden. Zum Besuchsprogramm beim Aufenthalt der Niedergrafschafter in Mühlberg gehört unter anderem eine »Mobilteam-Fahrt«. Das heißt: Die Amateurfunker sausen mit ihren Geräten in der Gegend herum und versuchen Aufgaben zu lösen.

Der 28jährige Stefan Freinatis ist einer der Gäste aus den Reihen der Uelsener Amateurfunker. Er soll herausfinden, was es mit einem Bodendenkmal in der Nähe des Dorfes Kosilenzien auf sich hat. Bei den Resten eines vorgeschichtlichen Burgwalls kommt Freinatis nicht weiter. Also wendet er sich an einen Einheimischen in der Hoffnung, daß er die ihm gestellte Frage beantworten kann.

Freinatis kommt zufällig mit Günter Peschel zusammen. Der 67 Jahre alte pensionierte Lehrer wohnt in dem Dorf und entpuppt sich als versierter Heimatkundler. Bereitwillig gibt er Auskunft über die Besonderheiten des besagten Burgwalls, der mehr als 2500 Jahre alt ist. Stefan Freinatis weist sich im Gespräch mit Peschel als Westdeutscher aus, der aus einem Dorf an der deutsch­niederländischen Grenze stammt. Das läßt wiederum Lehrer Peschel aufhorchen. Er besitze da eine alte Taschenuhr mit einer Gravur, deren Sprache er nicht verstehe. Möglicherweise handele es sich um Niederländisch, und wenn Freinatis doch von der niederländischen Grenze komme, vielleicht könne er ihm helfen, den Inhalt der Gravur zu entziffern.

Vergangenheit

Am 07. Januar 1928 herrscht auf dem Bahnhof des niederländischen Nordseebades Zandvoort helle Aufregung. Ein Personenzug, der um 17.11 Uhr Haarlem verlassen hat, ist mit offenbar zu hoher Geschwindigkeit in den Zandvoorter Sackbahnhof gerast. Die Dampflokomotive des Zuges hat den Prellbock beiseite gefegt, ist am Ende der Strecke aus den Schienen gesprungen und direkt ins zu diesem Zeitpunkt nicht besetzte Hauptbüro des Bahnhofsvorstehers gerast. Der Lok-Führer erleidet bei dem Unglück schwerste Verletzungen, denen er wenig später erliegt. Auch sein Assistent stirbt. Zahlreiche Passagiere des Zuges kommen mit mehr oder weniger leichten Verletzungen davon. Und die Lokomotive steht nach wie vor unter Dampf und droht zu explodieren.

Artikel vom 7. Januar 1928

Das Zugunglück zu Zandvoort

Am Samstag Abend hat in Zandvoort, das, wie man weiß, ein Kopfbahnhof ist, ein ernsthaftes Eisenbahnunglück stattgefunden, wobei zwei Menschenleben zu betrauern sind. Das Unglück geschah mit dem Zug, der um 05:11 Nachmittags aus Haarlem abfuhr, und der vermutlich mit zu hoher Geschwindigkeit in den Bahnhof Zandvoort hineingefahren kam. Der Zug fuhr den Prellblock beiseite und beschädigte die Bahnhofsüberdachung. Das voortrug (?) der Lokomotive wurde komplett weggeschlagen und die Lokomotive fuhr in das Büro des Bahnhofvorstehers, der jedoch wegen Unwohlseins nicht anwesend war. Der Lokomotivführer H. de Beer, wohnhaft in Haarlem, erlitt eine Gehirnerschütterung und ist inzwischen verstorben, derweil Mej. Keur an einer Schädelfraktur verstarb. Einige Reisende erlitten diverse Verwundungen der weniger schweren Art. Aus unserem Foto ist ersichtlich, wie Lokomotive und Tender quer durch den Bahnsteig gefahren sind bis halbwegs in das Arbeitszimmer des Bahnhosvorstehers, wo sie ebenfalls großen Schaden angerichtet haben. Die Ursache des Unglücks scheint dem Hapern der Westinghouse-Bremsen zugeschrieben werden müssen.

7. Januar 1928

 

Die Polizei hat inzwischen das Bahnhofsgelände abgesperrt. Dennoch verfolgen Hunderte Schaulustige das unheimliche Spektakel. Unter ihnen ist der 26jährige Schiffsmaschinist Cornelis »Cees« Hoogendijk. Er weiß aufgrund seines Berufs mit Dampfkesseln umzugehen und bietet sich deshalb an, die Lokomotive wieder unter Kontrolle zu bringen - auf eigenes Risiko und nur mit Hilfe eines Gefährten. Das Unternehmen gelingt, ohne daß weiterer Schaden entsteht. Monate später erhält Cornelis Hoogendijk dafür Dank und Anerkennung der »Nederlandsen Spoorwegen«, der Eisenbahngesellschaft des Königreichs. Er wird mit einer Urkunde ausgezeichnet und mit einer silbernen Taschenuhr beschenkt.

Gegenwart

Für Stefan Freinatis aus Uelsen ist es kein Problem, die Inschrift der Taschenuhr, die Günter Peschel ihm zeigt, zu übersetzen. Schließlich ist er seit einiger Zeit am Max­Planck-Institut im niederländischen Nijmegen tätig, und die niederländische Sprache ist ihm nicht fremd. Also liest er auf der Innenseite des Deckels der Taschenuhr folgenden Satz:

Aan C. Hoogendijk
Voor betoonden moed bij Spoorwegongeluk
7. Jan. 1928 Zandvoort

Das hat Freinatis natürlich schnell übersetzt. Die Uhr ist offenbar einem Herrn Hoogendijk für seinen »bewiesenen Mut« bei einem Eisenbahnunglück vor 63 Jahren an der niederländischen Nordseeküste überreicht worden. Für Günter Peschel ist die Übersetzung eine kleine Offenbarung. Er hat in der Isolation der DDR jahrzehntelang über den Sinn der Gravur gerätselt und nie die Möglichkeit gehabt, herauszufinden, wer der für ihn mysteriöse C. Hoogendijk war oder ist. Die Grafschafter Amateurfunker und der pensionierte Lehrer sind inzwischen gut miteinander bekannt. Stefan Freinatis verspricht, seine Kenntnisse des Niederländischen einzusetzen und nach jenem Herrn Hoogendijk zu fahnden.

Vergangenheit

Günter Peschel kommt im Jahr 1951 als Dorfschullehrer nach Kosilenzien. In der Nachbarschaft des Ortes sind die dunklen Schatten der Kriegs- und Nachkriegsjahre noch sichtbar. Die Bevölkerung hat indes alle Hände voll zu tun, im DDR-»Sozialismus« zu überleben. Die Lebensmittelversorgung ist auch 1951 und in den Folgejahren schlecht. Nur wenige Kilometer entfernt befindet sich das Gelände eines ehemaligen Kriegsgefangenenlagers, des »Stalag IV B Mühlberg«, in dem im Verlauf der Kriegsjahre Tausende von Menschen aus allen europäischen Ländern ums Leben kommen, unter ihnen auch 18 Niederländer. Nach dem Zweiten Weltkrieg nutzen die sowjetischen Besatzer das Lager für ihre Zwecke: Wiederum wandern Tausende von Menschen, diesmal Deutsche, die sich nicht mit dem neuen System anfreunden wollen, hinter den Stacheldraht. Wiederum sterben Tausende.

1948 lösen die Sowjets das Lager auf. Die Baracken werden abgebrochen, das Abbruchmaterial wird für den »Aufbau des Sozialismus« in der damaligen DDR verwendet. Das Gelände verwildert und ist in den folgenden Jahren Tummelplatz für Kaninchen. Kaninchen werden Anfang der 50er Jahre in der DDR hoch gehandelt. Wer kann, macht Jagd auf die Vierbeiner, um den heimischen Speisezettel zu bereichern. Weil Schußwaffen verboten sind, greifen die Experten unter anderem auf das Frettchen als Kaninchenjäger zurück.

1953 steht ein solcher Frettchenjäger vor der Haustür von Günter Peschel und bietet ein frisch erlegtes Kaninchen zum Kauf an. Sein Frettchen hat es in einem Bau auf dem Gelände des ehemaligen Gefangenenlagers gestellt. Allerdings wollte es den Bau nicht mehr verlassen. Also hat der Jäger den Bau nach Frettchen und Kaninchen aufgegraben. Dabei findet er eine schmutzige, verrostete Uhrendose, und in der Dose eine noch voll funktionsfähige silberne Taschenuhr.

Günter Peschel erwirbt Kaninchen und Uhr. Der Uhrdeckel ist graviert. Peschel kann sich auf die niederländischen Worte keinen Reim machen. Für ihn ist eigentlich nur klar, daß die Uhr einem der ehemaligen Insassen des Kriegsgefangenenlagers gehört haben muß. In den Folgejahren bemüht Peschel sich vergeblich, etwas· über den rechtmäßigen Eigentümer der Uhr in Erfahrung zu bringen. Er kennt das Nordseebad Zandvoort nur als Austragungsort für Autorennen, und die Bezeichnung »Spoorwegongeluk« scheint ihm auf etwas mit vier Rädern hinzudeuten. Briefe, die er in den 50er und 60er Jahren nach Zandvoort schickt, bleiben unbeantwortet - oder erreichen ihre Adressaten in einem dem DDR-»Sozialismus« feindlichen, westlichen Land gar nicht erst. Also verwahren Günter Peschel und seine Frau Ilse die Uhr sorgfältig, klappen hin und wieder den Deckel auf und denken an jenen C. Hoogendijk, dem sie einst gehörte.

Gegenwart

Nachdem die Grafschafter Amateurfunker wieder zu Hause sind, schickt Stefan Freinatis Ende Mai dieses Jahres zunächst zwei Briefe ab: Den einen an die »Nederlandse Spoorwegen«, den anderen an die Gemeinde Zandvoort. Gleichzeitig nimmt er sich im Nijmegener Max­Planck-Institut das Zandvoorter Telefonbuch vor und sucht nach dem Namen Hoogendijk. Er findet zehn Einträge, einer beginnt mit dem Buchstaben C. Kurzentschlossen wählt Freinatis die dazugehörige Nummer. Am anderen Ende der Leitung meldet sich ein Cornelis Hoogendijk, der als hochgeachteter, 89 Jahre alter »Ome Cees« in einem Altenwohnzentrum in Zandvoort lebt.
Stefan Freinatis erklärt Cornelis Hoogendijk den Grund seines Anrufs. Als er ihm den Text der Gravur in der silbernen Taschenuhr vorliest, ist die Sache mit einem Male klar. »Es ist ein Wunder, ein großes Wunder«, sagt »Ome Cees« nur. Es ist seine Uhr, die Günter Peschel in der ehemaligen DDR aufbewahrt. Nach mehr als sechs Jahrzehnten hat Cornelis Hoogendijk das verlorene Stück wiedergefunden.

Vergangenheit

Cornelis Hoogendijk hat die Uhr als Anerkennung der »Nederlandsen Spoorwegen« 1928 empfangen. Er trägt sie nicht oft. Sie liegt meistens in seinem Kleiderschrank. Irgendwann in den dreißiger Jahren verliert Hoogendijk die Uhr. Sie verschwindet spurlos. Diebstahl oder simple Gedankenlosigkeit? Niemand weiß es. Cornelis Hoogendijk arbeitet weiter auf See. Während des Zweiten Weltkrieges ist er auf Schiffen der Freien Königlichen Marine der Niederlande eingesetzt. Später setzt er sich zur Ruhe und findet seinen Platz in jenem Zandvoorter Altenwohnzentrum. Kriegsgefangener ist Hoogendijk nie gewesen.

Gegenwart

Nach dem Anruf von Stefan Freinatis im Zandvoorter Altenheim erhält Freinatis Nachricht von der Tochter des 89jährigen »Ome Cees«. Sie schickt ein Foto jener Urkunde mit, die Hoogendijk 1928 zusammen mit der Uhr von den »Nederlandsen Spoorwegen« erhalten hat. Sie macht zugleich deutlich, daß es sehnlicher Wunsch ihres Vaters ist, die Uhr zurückzubekommen.

Die Amateurfunker lassen ihre organisatorischen Fähigkeiten spielen. Günter Peschel in Kosilenzien wird telefonisch darüber verständigt, daß der rechtmäßige Eigentümer der Taschenuhr gefunden ist. Das ist aufgrund der miserablen Telefonverbindungen in die ehemalige DDR gar nicht so einfach. Irgendwann nach Mitternacht erreicht Peschel der entscheidende Anruf aus dem Westen.

Dann sind auch die Peschels nicht mehr zu halten. Sie brechen nach kurzer Vorbereitung sofort gen Westen auf. In Getelo, bei der Familie Lübbermann, die ebenfalls bei den DARC-Amateurfunkern der Niedergrafschaft aktiv ist, finden sie auf dem Weg nach Zandvoort eine Übernachtungsmöglichkeit. Sie treffen am späten Abend ein uns setzen ihre Reise gleich am nächsten Morgen fort. Günter Peschel brennt darauf, die Uhr dem rechtmäßigen Eigentümer zurückzugeben, nachdem sie 38 Jahre in seinem Besitz war. Er hat, bekundet er am Abend in Getelo vor der Weiterreise nach Zandvoort, das Stück noch nie so behühtet wie in den vergangen 14 Tagen.

Die Übergabe der Uhr in Zandvoort wird zu einem unvergeßlichen Ereignis im Leben des Cornelius Hoogendijk und seiner Angehörigen, der Familie Peschel und der Niedergrafschafter Amateurfunker, die ihre Freunde aus Ostdeutschland in die Niederlande begleitet haben. Zandvoorter Zeitungen, die von der Geschichte Kenntnis erhalten, schicken Redakteure und Fotografen, ein Repräsentant der »Nederlandse Spoorwegen« ist dabei, und eine Zandvoorter Promotion­Agentur spendiert den Peschels einen kostenlosen, mehrtägigen Aufenthalt in einem Luxushotel mit Blick auf die Nordsee.

Eigentlich hätte Cornelis Hoogendijk seine Uhr schon viel früher zurückerhalten müssen, sagt Günter Peschel bei der feierlichen Übergabe im Altenwohnzentrum. Er denkt dabei sicherlich an die Verhältnisse in der ehemaligen DDR, die das nicht erlaubten. Peschel hofft, daß Hoogendijk noch viele Jahre Freude an seiner Uhr hat. Der alte Mann nimmt das silberne Stück sichtlich bewegt entgegen. Seine Unterlippe zittert, ihm stehen Tränen in den Augen. Seine Tochter erzählt, »Ome Cees« habe lange vor dem Anruf des Stefan Freinatis mehrere Nächte immer den selben Traum geträumt: daß er seine Uhr irgendwann am Strand von Zandvoort verloren habe.

Vergangenheit und Gegenwart

Wie die silberne Taschenuhr aus dem Zandvoort der 30er Jahre aufs Gelände eines Kriegsgefangenenlagers im Osten Deutschlands gekommen ist, haben weder die Niederländer noch die Deutschen klären können. »Cees« Hoogendijk war nie im »Stalag IV B Mühlberg«, Günter Peschel war während des Krieges und danach nie in den Niederlanden. Irgendwo zwischen den 30er und 50er Jahren hat es Menschen gegeben, denen die silberne Taschenuhr mit der niederländischen Gravur in die Hände gefallen sein muß. Einer muß sie bis ins »Stalag IV B Mühlberg« getragen haben. Ob es ein Kriegsgefangener war oder ein Wachsoldat? War die Uhr Diebesgut, Fund- oder Beutestück? Sicher ist nur, dass sie nach einer Reihe von Zufällen, wie es sie in dieser Form nur selten gibt, aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurückgekehrt ist.

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Zeitungsartikel vom 27. Juli 1991

Der Zeitungsartikel in höherer Auflösung (2 MB).

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